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Auf der Probebühne politischen Handelns
Johannes Odenthal Es sind die Schichten von Erinnerungen, von Sozialisierung, kulturellem Gedächtnis, von Traumatisierung und Transformation, die den Körpern eingeschrieben sind und die durch den Tanz erschlossen und kommuniziert werden können. In einer choreografischen Arbeit aus den Anfängen von Rubato, in der Produktion „Menschlinge“ von 1988, gehen die beiden Tänzer Jutta Hell und Dieter Baumann bereits an diese Substanz tänzerischer Möglichkeiten. Das wiederholte An- und Ausziehen von schwerem Schuhwerk wird zur ambivalenten Metapher der Einengung und der Befreiung, der Vergewaltigung und des Ausbrechens. Es ist der Beginn einer Erkundungsreise in den unbekannten Kontinent des Körpers, eine Reise in die Muskel geschichte, die Skelettstruktur, die Flüssigkeiten, die Zellen und das Bindegewebe. Diese Recherche über inzwischen 30 Jahre hinweg setzt sich mit dem utopischen Körper auseinander, wie ihn Michel Foucault beschreibt, dem Körper als dem Zentrum unserer Existenz und zugleich dem Palimpsest alles Fremden: „Es war dumm, wenn ich eben meinte, der Körper sei niemals anderswo, er sei immer nur hier und widersetze sich jeglicher Utopie. In Wirklichkeit ist mein Körper immer anderswo, er ist mit sämtlichen ‚Anderswos‘ der Welt verbunden, er ist anderswo als in der Welt (…) Der Körper ist der Nullpunkt der Welt, der Ort, an dem Wege und Räume sich kreuzen. Der Körper selbst ist nirgendwo. Er ist der kleine utopische Kern im Mittelpunkt der Welt (…).“ (Foucault, „Der utopische Körper“, 1966) In diese Dialektik des Körpers eingeschrieben sind die Körpertechniken des Menschen, aber auch die Geschichten von Frau und Mann, die kulturellen, familiären und individuellen Geschichten, die in der Langzeitrecherche von Jutta Hell und Dieter Baumann in inzwischen 54 Produktionen öffentlich durchdekliniert wurden. Studien des Gehens und Fallens, Exerzitien gleich, im Gleichschritt oder gegeneinander, das kompromisslose Durchspielen von Möglichkeiten zwischen Körper und Körper, Körper und Raum, Körper und Zeit, Denken und Bewegen, die Verweigerung jeglicher Anpassung: Das sind Charakteristika ihrer Arbeiten, in denen sie die Möglichkeiten tänzerischer Wissensproduktion systematisch erforschen. Dabei gingen sie weite Wege, so Ende der 1980er Jahre nach Japan, um bei Kazuo Ohno Unterricht zu nehmen, oder in den 1990er Jahren in die USA, wo sie mit Bonnie Bainbridge Cohen die Körperlehre des Body-Mind Centering studierten. Über 20 Jahre arbeiteten sie mit Tänzern abwechselnd in China und Deutschland, produzierten zwischen den Kulturen, machten den „Umweg über China“, wie ihn François Jullien in seinem gleichnamigen „Ortswechsel des Denkens“ thematisierte. Es sind diese Grenzgänge zwischen philosophischer Reflexion und performativen Studien, die zur Grundlage ihrer tänzerischen Recherche geworden sind. Was haben Body-Mind Centering und Michel Foucault, Butoh und François Jullien oder Gerhard Bohner und Niklas Luhmann miteinander zu tun? Produktionen wie „Finde Orte“ von 2012, „Eidos_Tao“ von 2005 oder „Uncertain States“ von 2015 geben darauf künstlerische Antworten. Dabei gehen die beiden Tänzer-Choreografen ein hohes Risiko ein. Sie ziehen sich mit ihren eigenen Kör-pern nicht heraus aus den Recherchen, werden nicht zu reflektierenden Betrachtern ihrer eigenen Forschung, sondern stehen im Zentrum, „operieren“ am eigenen Leib. Radikal und konsequent ist dann auch der Schritt, sich mit dem eigenen nackten Körper dem Publikum auszusetzen, so in der Produktion „Finde Orte“ zu dem bereits zitierten, ins Deutsche übersetzten Radiobeitrag „Der utopische Körper“ von Michel Foucault. Es treten die theoretische Reflexion und die physische Präsenz in einen assoziativen und sich gegenseitig erhellenden Austausch, der die Grenzen der Disziplinen für Momente vergessen lässt. Ausgangspunkt dieser nun drei Jahr-zehnte währenden künstlerischen Untersuchung ist auch eine Utopie: die der freien Szene, in der das Zusammenfallen von Leben und künstlerischer Recherche gefordert wurde. Jutta Hell und Dieter Baumann haben Ernst gemacht mit dieser Vorstellung, sind in ein einzigartiges Langzeit-Forschungsprojekt eingestiegen, in dem ein großer Wissensspeicher, ein Körperarchiv entstanden ist, das sich mit jeder neuen Produktion neu dem Publikum stellt. „Uncertain States – Unsichere Zustände“ war dann auch im März 2015 der Auftakt einer Trilogie, in der das eigene Werk anlässlich einer 30-jährigen Geschichte in einer konzentrierten Form resümiert wird. Mit „Differenz und Wiederholung“ (September 2015) und „Dis-sens/Konflikt“ (2016) wird dieses Experiment abgeschlossen. Nicht die Wiederaufnahme von Produktionen, nicht eine Werkschau war die Idee, sondern ein weiterer Schritt in der Übersetzung des eigenen körperlichen und mentalen Wissensprozesses. Ins Zentrum rückt für diese Trilogie der Begriff der Kontingenz. Im Unterschied zum Konzept des Konsens verhandelt die Situation der Kontingenz die Konflikte, die Differenzen, die eigenen Wahrnehmungen immer neu. Es gibt keine festen Positionen. Mit diesem Konzept der Offenheit antwortet Rubato auf die Schlüsselfrage: Wie bleiben wir angesichts der immer komplexer werdenden Krisensituationen handlungsfähig? Der Tanz als Probebühne eines bewussten und verantwortungsvollen Handelns. //
Johannes Odenthal inTheater der Zeit 01.10.2015 _ 10/2015