Ballettanz 07/2008 
Autorin:  Irene Sieben
RUBATO 
«zukunft_erinnern reloaded» 

Die Frage nach dem «Woher» und «Wohin» ist die wichtigste in schöpferischen Prozessen. Dass jeder Neubeginn an die Tradition künstlerischer Avantgarde anknüpfen muss, haben Jutta Hell und Dieter Baumann, kurz Rubato, in immer neuen Spielarten bewiesen. Vielleicht sind Neugier und Wertschätzung von Wissen die Wurzeln für ihre radikalen Ideen zwischen China und Bauhaus, pulsierendem Leben, Alter und Tod. «zukunft_erinnern_reloaded» ist die vierte Fassung eines Stückes, das sich mit Gerhard Bohners Ideen von Abstraktion, Emotion und Reduktion befasst, basierend auf dem letzten Proben video von Cosima Santoro, die seit 1986 bis zum Tod des Choreografen 1992 sein wegweisendes Tun dokumentierte. Dieter Baumanns Solo zitiert, knüpft an, stellt Vergangenes infrage. 

Pressestimmen zukunft_erinnern

Er mischt ins Schwarzweiß ganz neue Farben von Härte, Geschwindigkeit und völliger Verausgabung. Und es wird deutlich, wie ähnlich sich jetzt die bei den Männer mit ihren grauen Köpfen werden:  Baumann Anfang, Bohner Mitte 50. Und wie verschieden sie sind. Während Bohner, von Krankheit gezeichnet, nichts als Ökonomie blieb, schöpft Baumann in athletischer Hochform aus dem Überfluss. Seine Präsenz ist überwältigend. Enervierendes Störgeräusch (Lutz Gladien) begleitet den raschen Eintritt des Tänzers von rechts vorn. Zwei weiße Stäbe, kurz vor ihm senkrecht in Balance gebracht, knallen zu Boden. Im Blackout wirft sich Baumann rücklings zu Boden. Diese Momente des Stürzens und Aufbäumens kehren in wachsendem Tempo immer wieder. Stäbe setzen Zäsuren, werden zur Messlatte, zum Schutzgitter, verlängern wie Propeller die Glieder. Gnadenlos rückt Baumann dem Raum zuleibe. Punkt, Linie, Fläche, Kreis sind Motoren für seine Emotion. Gnadenlos auch die Töne (Herzklopfen, Presslufthämmer), die ihn treiben. Fast quälend das pointierte Rückwärtsschreiten auf einer Horizontlinie, die vehementen Drehsprünge im Kreis. Angst und Geometrie rücken sich bedrohlich nah. Die nackte Haut seines Brustkorbes verschmilzt mit dem gigantischen Videobild zweier (Bohners) Hände, die sechs Hölzer wie eine Ziehharmonika greifen. Eine faszinierende Durchdringung von Zeit, Licht und Raum. Später hockt Bohner in Denkerpose vor einer Art Schachbrett. Er steckt Stäbe von Feld zu Feld. Das Wiedersehen berührt. War es nicht gestern gewesen, dass er als einsamer Wolf Maßstäbe setzte für einen Diskurs über Tanz als emanzipierte Kunstform? Durch viele kleine Züge des Probierens eignet er sich analytisch das Material an. Das war Qual und Reibung zugleich. Nun reibt sich Baumann, durch ihn kontaminiert, an der Funktionalität entblößter Körperteile. Wieder die Faust. Nicht grün bemalt wie bei G. B., sondern rot anschwellend durch heftiges Pumpen der Hand. Sichtbare Qual. Pulsierendes Leben. Der Kopf schüttelt sich so schnell, bis nichts als Unschärfe bleibt. Erlösung im lichtkegel: Alles verflüssigt sich, was zuvor Hochspannung war. Ein Körper von magischer Durchlässigkeit. Diese Transformation hinterlässt uns staunend.