SOS_Kritiken

 

Magazin TANZ 01.06.2018 von Hartmut Regitz

___________ SOS

 

In sich versunken, stehen die beiden einfach nur da. Xuan Shi ist der Erste, der seine Sin-nesorgane stimuliert. Einen Finger um den anderen führt er bedeutungsvoll auf die Augen, so wie es anschließend Niannian Zhou mit den Ohren tut. Die Nase wird nicht ausgelassen. Ebenso wenig der Mund, der sich daraufhin stumm öffnet. Ein Akt der Bewusstmachung, mit «zärtlicher Langsamkeit» ausgeführt, wie die Tempobezeichnung im Untertitel zu «SOS» lautet. 1991 hat Gerhard Bohner das Duo für Dieter Baumann und Jutta Hell choreografiert, die seine letzte Arbeit jetzt im Rahmen eines TANZFONDS ERBE-Projekts an ihre Nachfolger weitergeben: nicht einfach nur als das Vermächtnis eines Grenzgängers und Einzeltänzers im bundesdeutschen Ballettgeschäft, sondern als ein beispielhaftes Lehrstück, zu dem Franz Mon im Nachhinein eine Vorlage liefert. So wie der Autor in seinem Text aus dem Buch «herzzero» Menschen versachlicht und Beziehungen zerlegt, um dadurch existenzielle Banalitäten in einem überraschenden Licht aufleuchten zu lassen, schärft auch Bohner die Wahrnehmung, indem er die Szene so entschleunigt, als wollte er nicht ohne Ironie das «Rubato» im Titel der ausführenden Tanzkompanie auf seine Choreografie anwenden. Jede einzelne Bewegung ist bedacht, jeder Fingerzeig voller Fantasie. Nichts scheint dem Zufall überlassen. Und der erste Blickkontakt nach gut einer Viertelstunde erfolgt denn auch mit einer Wucht, die nicht bloß die Körper der beiden Tänzer erschüttert. Auch der Zuschauer ist im Innersten bewegt, selbst wenn vor der Breitseite des Saals – in diesem Fall: die Black Box der Berliner Akademie der Künste – anscheinend nichts sonderlich Aufregendes passiert. Xuan Shi und Niannian Zhou falten ihre Filzröcke, als wären’s Bögen aus Papier. Sie wischen die gestreiften Wände ab, gleiten schwebend vorüber, verkriechen sich zwischendurch unter einer Decke oder verschwinden einfach, nicht ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Und der ist nur möglich, weil Gerhard Bohner so unglaublich konzentriert choreografiert. Da spürt man selbst im kleinsten Finger mehr Tanz als sonst manchmal in einem ganzen Stück.

 

 

TANZNETZ.DE, 28.04.2018

 

Gastbeitrag von Maxie Liebschner

Finger in der Nase
Die gelungene Rekonstruktion von Gerhard Bohners „SOS“ in Berlin

 

Gerhard Bohner (1936-1992) war bekannt für klare, schlichte Formen und ihre Geometrie. Vor allem für jene BesucherInnen, die sich mit fachkundigem Blick erinnern, dass es 1991 bei der Uraufführung im Foyer des Hebbel-Theaters in Berlin statt Stühlen nur niedrige Holzbänke ohne Lehne gab. Heute gibt es sowohl als auch. Es sind drei Stuhlreihen und eine Holzbankreihe, die sich alle nah zur Bühne befinden. Von da aus lässt sich gut beobachten, wie die zwei TänzerInnen Niannian Zhou und Xuan Shi ihre Gliedmaßen bewegen, als würden sie gar nicht zu ihnen gehören und erst einmal getestet werden müssen. So schieben sie sich nacheinander ihre Finger in die eigene Nase, als wären es keine Finger, sondern Bauteile. Und wenn der Mittelfinger als Bauteil fungiert, fällt die gewohnte Symbolik dieses Fingers plötzlich weg. In Bohners Choreografie kommt es auf das Detail an, und je mehr wir uns darauf konzentrieren, desto unabhängiger erscheinen die Finger vom menschlichen Körper. Diese mechanischen, einfachen und prägnanten Bewegungen werden zu Beginn noch vom gleichmäßigen Klang eines Metronoms begleitet. Er unterstreicht die kleinteiligen Bewegungen, die sich scheinbar mühelos an die geraden, vertikalen Streifen der grau und weiß gestreiften Bühnenwand schmiegen. Die zwei TänzerInnen kriechen und legen sich unter ihre Stoffkreise, mit denen Sie seit Beginn der Performance tanzen und spielen. Es ist ein Moment der Stille und ein Moment, in dem die Bewegungen weniger mechanisch sind. Nachdem Niannian Zhou wieder unter ihrer Decke auftaucht, sind ihre vorher glatten Haare auf einmal verwuschelt und lassen einen Menschen fern der Perfektion erahnen. Hier zeigen sich Lebendigkeit und Menschlichkeit. Zum ersten Mal während der Performance sind nicht nur Klänge, fremdartige Geräusche oder unverständliches Flüstern zu hören, sondern auch klare Worte und Sätze. Der Sprecher Knuth Irche liest Texte von Franz Mon aus „herzzero“ und fragt, was der Mensch eigentlich könne? Zum Beispiel kann er warten. Doch eigentlich wird deutlich, dass egal ist, was er kann oder tut, da er immer in den Abläufen des Lebens integriert ist. Er wird sich immer abarbeiten, vor allem an den „Dingen“ die ihn umgeben. Und diese sogenannten „Dinge“ sind nicht nur Bestandteil des menschlichen Daseins, sondern scheinen gleichzeitig auch ein Spiegel der gewohnten mechanischen Lebensabläufe zu sein. So wird in "SOS" aus sich kratzenden TänzerInnen eine mechanische Bewegung, die sie mehr als „Dinge“ erscheinen lässt, statt als Menschen. Selbst ein Schrei bleibt stumm und ist mehr Bewegung als Emotion. Bewegungen werden sooft wiederholt, bis ihre Bedeutung nicht mehr erkennbar ist und in Abstraktion übergeht. Und so balancieren Niannian Zhou und Xuan Shi auf wunderbare Weise auf einer Linie zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Mensch und Ding. Zum Schluss bleiben vor allem Bilder abstrakter Genauigkeit. Bilder, die die präzise Arbeit der beiden TänzerInnen und der Bohner-Schüler Jutta Hell und Dieter Baumann reflektieren. Sie haben sich das Erbe des Choreografen auf gelungene Art und Weise neu erarbeitet.